WAS IST ZITIEREN? (ESSAY)

ANFORDERUNGEN AN DIE ARCHITEKT/INNEN DES 21. JAHRHUNDERTS

Die Disziplin der Architektur wird herkömmlicherweise als das Erschaffen unserer gebauten Umwelt aufgefasst. Überwindet man die Trennung zwischen Künsten und Wissenschaften, so wird die Architektur auch als Gestaltung von Bauwerken, „die Kunst zu bauen", bzw. als „Baukunst” verstanden. 
     Hinsichtlich der Tatsache, dass jede gebaute Form in einen bestehenden Kontext gesetzt wird, wird schnell ersichtlich, dass die Architektur als Disziplin recht umfangreiche, gesellschaftsrelevante Fragen aufwirft. Somit scheint es nahezu rudimentär, das Gebiet der Architektur auf „die Kunst zu bauen” zu beschränken und gegebenenfalls zu definieren. 
     Sieht man jedoch die Architektur als integrative Disziplin, welche imstande ist, ein Zusammenkommen künstlerischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Disziplinen zu bieten, so stellt sich recht schnell die Frage: Warum wird nicht auch die „Baukunst“, die gebaute Form, integrativ gestaltet? Insbesondere im 21. Jahrhundert, während der immer weiteren Zuspitzung des Klimawandels, stellt sich diese Fragestellung dringender denn je.
     Es wird eine neue Definition für die Disziplin der Architektur benötigt. Eine Definition, die auf die durch die Klimakrise entstandenen Anforderungen antwortet. Eine Architektur, welche sich nicht auf die gebaute Form begrenzt, sondern auf das Entwerfen Zukunftsvisionen, welche sicherstellen, dass unsere Erde für alle Lebewesen bewohnbar ist.

Mit dem Entwerfen solcher „Transformationsstrategien” beschäftigen wir uns dieses Semester im „Baukunst Studio” an der Akademie der bildenden Künste Stuttgart. Um dem integrativen Charakter der Architektur gerecht zu werden, beschäftigen wir uns mit einer Reihe von wissenschaftlicher Begleitliteratur. In dieser Literatur werden durch die Bank recht ähnliche Auffassungen bezüglich Forderungen von uns ArchitektInnen formuliert. Auf diese baut die Lehre des „Baukunst Studios“ auf.  

Die Hauptthese, die von den meisten AutorInnen vertreten wird, besagt, dass es keine Abgrenzung zwischen Natur und Mensch gibt, und dass es uns Menschen erst dann besser gehen kann, wenn wir uns als Eins mit der Natur sehen. 
     Die immer weiter eskalierende Klimakrise und der drastische Anstieg an Ungleichheit sind ein und dasselbe Phänomen. Die beiden Vorgänge können nicht getrennt voneinander betrachtet werden; sie gehen Hand in Hand. Anna Lowenhaupt Tsing formuliert dies sehr treffend in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt. Sie schreibt: „Wenn man auf die Trennung von Mensch und Natur verzichtet, können alle Kreaturen wieder am Leben teilhaben und Männer und Frauen können sich ohne die Zwänge einer allzu eng gefassten Rationalität Ausdruck verschaffen” (Tsing, 2019). Wenn wir eine Zusammengehörigkeit kreieren wollen, welche nicht wie bisher auf einem Dualismus aufbaut, so müssen wir erkennen, dass wir nur miteinander werden können, oder wir werden gar nicht (Haraway, 2018).
     Es gilt die Abgrenzung zwischen Natur und Mensch zu überwinden und festzustellen, dass diese uns nicht so fern ist wie immer behauptet wird. Wir befinden uns inmitten des sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte und müssen begreifen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, die Natur zu verteidigen, sondern dass wir die Natur selbst sind, die sich verteidigt (Latour, 2018). So argumentiert auch Umweltaktivistin Sina Kamala Kaufmann: „Wir können die, die uns am nächsten sind nur schützen, wenn wir uns an unsere Liebe zu denen erinnern, die am weitesten entfernt sind” (Kaufmann et al., 2019).

Eine weitere Kernaussage, die in der Begleitliteratur zu finden ist, ist die Überzeugung, dass die Erde ein Geflecht von Ökosystemen ist und unser aller Existenz auf dem Prinzip der Symbiose aufbaut.
     Lynn Margulis definiert ein Ökosystem in ihrem Buch Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief als „Gruppe von Lebensgemeinschaften verschiedener biologischer Arten, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort leben und sich eines Zustroms an Energie und Materie von außen erfreuen” (Margulis, 2021). So ist jede/r von uns ein Ökosystem, wir alle sind aus Mikroorganismen aufgebaut, auch wenn die Bedeutung derer Existenz bisher nicht sonderlich hochgehalten wurde (Sheldrake, 2020). Jedoch ist es auch hier wichtig, den Menschen aus dem Zentrum der Aktivität zu verdrängen und festzuhalten, dass das Ökosystem der Erde unbestreitbar von Pflanzen beherrscht wird (Mancuso & Viola, 2015).
     Unsere geteilte Existenz auf diesem Planeten muss als ein Zusammenleben in gegenseitiger Abhängigkeit verstanden werden. Wird diese Abhängigkeit akzeptiert, so kann respektvoll miteinander umgegangen und die Ausbeutung zu Gunsten der Menschen beendet werden. 

Des Weiteren sind sich die AutorInnen im Klaren, dass nur ein radikales, systematisches Umdenken den Anforderungen der Zukunft unseres Planeten entsprechen wird. 
     Insbesondere wird die Rolle der Vereinten Nationen wiederholt aufgegriffen und kritisiert. Laut den Klimaforschern Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber bedarf es an einer grundsätzlichen Reform und Fortschreibung der UN-Charta, um diese an die Bedürfnisse der Zukunft anzupassen (Rahmstorf & Schellnhuber, 2019). Ist doch das Ziel der UN-Charta, den Frieden und die Sicherheit der Welt zu bewahren, so scheint es nahezu lächerlich, dass sie sich ausschließlich dazu verpflichtet, die Rechte der Menschen zu fördern und zu festigen. 
     In einer Diskussion mit Bruno Latour, stellt Hans Joachim Schellnhuber zynisch fest, dass die Vereinten Nationen zwar die Klimarahmenkonventionen leiten, doch im Endeffekt absolute keine Handlungsfähigkeit haben (Latour & Schellnhuber, 2018, 32:15). Demnach argumentiert der Forscher, dass die Vereinten Nationen letztendlich nicht die Macht haben, deren Klimapolitik auch tatsächlich durchzusetzen. 
     Es wird erkenntlich und als offenkundig präsentiert, dass nur systematische Änderungen einen maßgebenden Unterschied bieten können. 

Sobald wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir ArchitektInnen unser Fach als Einheit interdisziplinärer Beziehungen ansehen, ist es ausschlaggebend, im nächsten Schritt auch unserer Umwelt mit demselben Respekt zu begegnen. Es muss anerkannt werden, dass die Welt, die wir mitgestalten dürfen, ein genauso, doch weitaus komplexeres, verflochteneres System von Beziehungen ist. 
     Noch ist in der Architektur, aber vor allem in der gesellschaftlichen Auffassung, relativ wenig von der Gültigkeit und insbesondere der Wertschätzung dieser These zu spüren. Die Welt, wie wir sie kennen, wird in Einheiten unterteilt. Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroben gelten als fundamental unterschiedlich. Insbesondere in der Architektur wird diese Trennung allein anhand der Absonderung von Natur- und Siedlungsräumen veranschaulicht. 
     Wollen wir jedoch, dass auch die nächsten Generationen noch gut auf dieser Erde leben können, so muss es zu einem radikalen Umdenken kommen. Jede/r kann ein klein wenig zur Entschleunigung des Klimawandels beitragen, doch braucht es eine systematische Umstellung, die etwas am tatsächlichen Schicksal der Menschheit ändern kann.



LITERATURVERZEICHNIS

Anthropocene Curriculum. (2018). Discussion with Bruno Latour, Hans Joachim Schellnhuber. [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=Z-n_44M2nLw 

Bischoff, U., Botzki, A., Kaufmann, S. K., & Timmermann, M. (2019). Wann wenn nicht wir*: Ein Extinction Rebellion Handbuch. FISCHER, S.

Haraway, D. J. (2018). Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Campus Verlag GmbH.

Latour, B. (2018). Das terrestrische Manifest. Suhrkamp Verlag AG.

Mancuso, S., & Viola, A. (2015). Die Intelligenz der Pflanzen. Kunstmann Antje GmbH.

Margulis, L. (2021). Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief. Westend.

Rahmstorf, S., & Schellnhuber, H. J. (2019). Der Klimawandel: Diagnose, Prognose, Therapie. Beck C. H.

Sheldrake, M. (2020). Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. Ullstein Verlag GmbH.

Tsing, L. A. (2019). Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Matthes & Seitz Verlag.